Die Texte wurden mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Band "buchstabenblut - texte zwischen köln und amsterdam" entnommen, Köln: verlag ferber und partner, 1999. ISBN 3-931918-14-9
bahndamm köln west II
in sternheller nacht
fledermäuse
vor meinem fenster:
untermieter der toten.
vom friedhof herübergeflogen
bringen sie nachricht
von rastlosem leben.
zur nacht
mein nachtfreund schwebt bleich über melaten
und singt elftausend jungfrauen in schlaf.
im wetterbericht: atlantische tiefausläufer.
überm paradies: vollmond.
die gebeine sind der gebete müde.
Der Tourist
oder: Die verbotene Stadt
Der Tourist kam an einem Freitag im Mai. An diesem ersten Tag geschah noch nichts besonderes. Wahrscheinlich verbrachte er seine Zeit damit, sich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten anzusehen. Erst am Samstag begann der Untergang unserer Stadt.
Wie Sie sicher wissen, war unsere größte Attraktion die gotische Kathedrale, die in mehr als sechshundertjähriger Bauzeit fertiggestellt wurde und deren Erhalt noch bis zuletzt jedes Jahr zweistellige Millionenbeträge verschlang.
In jener verhängnisvollen Samstagnacht beschloß der Tourist, daß ein Stein dieser Kathedrale genau das war, was ihm in seiner Souvenirsammlung noch fehlte. Zwischen drei und vier Uhr morgens, als die Gefahr entdeckt zu werden am geringsten war, machte er sich an der Außenwand des Kirchenchores zu schaffen. Und tatsächlich gelang es ihm, einen Stein aus seiner Verankerung zu lösen und unerkannt mit seiner Beute zu entkommen.
Bei der Sechs-Uhr-Messe wurden erste Risse in den Wänden entdeckt. Gegen Mittag wurde die Kathedrale für Besucher geschlossen, da sich diese Risse inzwischen unter lautem Ächzen und Splittergeräusch im Gemäuer vom Chor bis in den Eingangsbereich vorgearbeitet hatten. Den ganzen Tag über versuchten die rund hundert Mitarbeiter der Dombauhütte fieberhaft, die Wurzel des ganzen Übels zu finden. Nicht zuletzt hingen ja auch ihre Arbeitsplätze vom Erhalt dieses Bauwerks ab. Erst am frühen Abend entdeckte man das von dem Touristen verursachte Loch. Doch da war es leider schon zu spät. So bewahrheitete sich das, was man lange Zeit für eine Legende gehalten hatte: Es gab in der Kathedrale einen Stein, der gewissermaßen alles zusammenhielt. Unter großem Getöse stürzte unser Dom ein, der die Jahrhunderte mit ihren Kriegen und Erdbeben überdauert hatte. Im weiten Umkreis platzten Fensterscheiben und die Erschütterungen waren bis in die Vororte hinein zu spüren. Ein Japaner wurde von den Trümmern erschlagen. Seine Kamera hingegen konnte unbeschädigt geborgen werden. Weitere Opfer waren dank rechtzeitiger Vorsichtsmaßnahmen nicht zu beklagen.
Der Tourist war inzwischen auch nicht untätig gewesen. Unseren Nachforschungen zufolge muß er als nächstes das Kunstmuseum besucht haben, das insbesondere für seine umfangreiche Picasso-Sammlung berühmt ist. Eines der Gemälde, dem die Kunsthistoriker zentrale Bedeutung für das Gesamtwerk dieses Meisters beimessen, hatte es wohl auch unserem Liebhaber angetan. Der Diebstahl wurde erst spät entdeckt, da die Stadt aus Gründen der finanziellen Einsparung das Wachpersonal reduziert und das in der Wartung sehr kostspielige Alarmsystem abgeschaltet hatte. In der Abteilung "Moderne Kunst" war der leere Bilderrahmen den Besuchern natürlich auch nicht weiter aufgefallen.
Die Spur der Zerstörung, die der Tourist am Sonntag hinterließ, ist kaum weniger beeindruckend. Nachdem er einen Stein aus einem römischen Abwasserkanal gezogen hatte, gab es derartige Erdverschiebungen, daß große Teile des Rathausviertels einstürzten. Und als er den Wasserspeier eines Brunnens in der Altstadt abbrach, löste er die größte Überschwemmung seit dem letzten Jahrhunderthochwasser aus.
Montags sind die Museen geschlossen, dafür ist Kinotag. Das wußte offensichtlich auch der Tourist. Gleich aus drei Kinos verschwanden die Filme, während noch Werbung gezeigt wurde.
Dienstag wurde er endlich gefaßt. Er war am Flughafen durch sein ungewöhnlich schweres Gepäck aufgefallen. Als man die Koffer öffnete, stellte man fest, daß alle "Souvenirs" sorgfältig in Handtücher und Bettzeug aus dem Hotel gewickelt waren, in dem er die letzten vier Tage verbracht hatte.
Er plädierte sofort auf "unzurechnungsfähig", da er schon von Geburt an einen starken Hang zur Kleptomanie gehabt habe. Seine Frau, mit der er in Gütertrennung lebte, verkaufte die Exklusivrechte für Buch und Film über sein Leben für eine, wie es heißt dreistellige, Millionensumme an einen großen Konzern.
Hier in unserer Stadt begann indessen das Aufräumen. Unsere größten Sehenswürdigkeiten waren zerstört. Wie sollte es nun weitergehen? Wie Sie hier sehen können, haben wir das Beste daraus gemacht. Nach fast einjährigen Beratungen und Planungen wurde die mittelalterliche Stadtmauer wieder aufgebaut, die heute das Stadtzentrum umschließt. Wir haben, genau wie das Himmlische Jerusalem in den Offenbarungen des Johannes, zwölf Tore. Diese werden von den Stadtsoldaten bewacht, die sich aus unserem ältesten Karnevalsverein, den Roten Funken, rekrutieren. Die Kontrollen sind sehr streng. In der Regel dürfen heutzutage nur noch Einheimische das Stadtzentrum betreten. Besucher müssen vorher angemeldet werden und können die Stadt nur in Begleitung eines Stadtsoldaten durchqueren. Autos und andere schnelle Fortbewegungsmittel sind verboten. Dafür erfreuen sich Fahrräder großer Beliebtheit. Unser Stadtzentrum ist das ruhigste und sauberste der Welt. Allerdings sind dadurch auch die Mieten nach oben gegangen, so daß dieser Bereich inzwischen zum absoluten Nobelviertel geworden ist.
Natürlich hat das ganze noch viele Veränderungen nach sich gezogen. Wie Sie sehen, haben sich Kaufhäuser und große Geschäfte unmittelbar an der Stadtmauer angesiedelt. Und wenn man einmal die Gelegenheit hat, einen Abend innerhalb der Mauer verbringen zu dürfen, dann sieht man, wie der Himmel ständig von hunderten kleiner Blitze durchzuckt wird. Was auf den ersten Blick wie Wetterleuchten aussieht, das, meine Damen und Herren, sind Ihre Kameras. Die Kameras der Touristen, die kommen, um das Wunder der "Verbotenen Stadt" zu bestaunen!
sommerdom
himmelsstrahlen,
von buntem glas geküßt,
fallen
auf kargen boden,
zersplittern:
kostbare
vergänglichkeitsjuwelen.
regenvogel
ist
in meinem herzen
deine traurigkeit.
eiskristalle auf schwarzem gefieder
taudiamanten
kleidsames totenhemd
im park
am januarmorgen
Amsterdam
fassaden
so backsteinrot
regennaß
grachtengespiegelt
würdelos alt
fenster
nicht gardinenbewehrt
gewähren durchblick
der gleitet
ohne halt
durch dunkel
zur nächsten öffnung:
nichts für voyeure
stadt
graffitigeschmückt
eine alte mätresse
mit zuviel makeup
im herzen
kultur und bordell
dicht an dicht:
Amsterdam
meine freundin
© 1999-2018 Yvonne Plum. Aus: buchstabenblut
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