St. Michael
Die neoromanische Kirche in der Kölner Neustadt ist die drittgrößte der Stadt (nach dem Dom und St. Agnes). Den Dimensionen des Kirchenraums angemessen sind die monumental wirkenden Skulpturen aus Lindenholz, die der Bildhauer Hermann Inhetvin 1928 schuf. Die vollplastischen Figuren sind etwa 80 cm hoch. Sie sind nicht bemalt; ihre farbige Oberfläche wurde stattdessen durch eine verschiedentonige Beizung erzeugt, die seit ihrer Restaurierung 1995 wieder voll zur Geltung kommt.
Inhetvin wurde 1887 in Geldern geboren. Er schuf für St. Michael insgesamt 20 Figuren, die noch komplett erhalten sind. Leider ist der ebenfalls von Inhetvin aus Holz gestaltete, grandiose Aufbau bis auf den Stall im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Der Künstler hat den Verlust des Aufbaus vor allem deswegen bedauert, weil er die Geschlossenheit seines Werks zerstört sah.
Inhetvins Krippe wird als erste Frucht der Krippenbewegung angesehen, die in den 20er Jahren entstanden war. Max Leo Schwering bezeichnet das Kunstwerk zu Recht als „das bedeutendste Kölner Krippenmonument ..., von keinem anderen übertroffen mit genialischen Einfällen, dem Griff über alles Herkömmliche hinaus."
Traditionell wird die Krippe hinter dem Vierungsaltar aufgestellt. Der Aufbau reichte einst mit einer Holzwand über die gesamte Apsis und verdeckte den darin stehenden Hochaltar. In dieser Wand befand sich eine riesige Spitzbogen-Nische, die Stall und Figuren ganz überdachte. Die Fläche über dem Stall wurde von einem Glasfenster mit Darstellungen von Engeln und dem Stern ausgefüllt. Vom Stern im Scheitelpunkt des spitzbogigen Fensters gingen Lichtstrahlen aus, die sich über dem Stall auffächerten und sich gewissermaßen im Giebeldach des Stallgebäudes fortsetzten. Der Stern in der Glasmalerei korrespondierte mit dem Strahlenkranz um das Kind herum - von Inhetvin als eine Art großes Blatt mit ausgezackten Rändern gestaltet, auf dem der Knabe liegt. Die Holzwand war an beiden Seiten der Nische mit kleinen Reliefs verziert, die Engel darstellten. Auf der oberen Abschlußkante der Wand standen die Worte aus dem Anfang des Johannes-Evangeliums: „Und das Wort ist Fleisch geworden" (Joh 1,14).
Die Verbauung des Hochaltars durch die Krippe rief seinerzeit auch Kritik hervor. Damit die Krippe gegenüber dem Tabernakel nicht dominierte, wurde sie während des Gottesdienstes sogar teilweise verdeckt.
In der jetzigen Aufstellung auf einem hohen Podest hinter dem Hochaltar wirken die Figuren nicht mehr als geschlossene Gruppe wie früher, als sie sich unter der „gotischen" Nische zusammenfanden. Die Individualität der Einzelfigur trat ursprünglich vor dem Ganzen zurück. Jetzt ist der Charakter des „Ensembles" verloren gegangen.
Trotz der neuartigen Interpretation orientierte sich der Künstler in formaler Hinsicht deutlich an den Werken der niederländischen Schnitzerschulen des ausgehenden Mittelalters. Erkennbar ist der Einfluß der Bildwerke der Kalkarer Nikolauskirche, die der Bildhauer sicherlich gut kannte. Stark zu spüren sind auch der Einfluß des deutschen Expressionismus - man denke etwa an Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach -, wenn auch den Figuren, was besonders bei den Hirten auffällt, bei allem Gefühlsausdruck ein eher skeptischer oder illusionsloser Zug anhaftet, der typisch für die allgemeine Stimmung in Deutschland Ende der 20er Jahre ist. Die Figuren sind zwar ausdrucksstark und agieren mit heftigen Gebärden. Ihre Expressivität ist aber ohne jedes Sentiment und ihr Pathos eher verhalten. Inhetvins Innovation besteht vor allem in seiner ganz und gar nüchternen und sachlichen Sicht der Weihnachtsgeschichte.
Das Expressive, das sich in Mimik, Körperhaltung und Gestik der Figuren zeigt, ist niemals pathetisch. Die Hirten scheinen mehr aus Neugier denn aus Überzeugung zum Stall zu kommen, um danach wieder zu den Sorgen und Nöten ihres beschwerlichen Alltags zurückzukehren. Sie scheinen die Tragweite dessen, was sich in Bethlehem ereignet hat, nicht recht zu begreifen. Inhetvin zeigt keine Glaubenden, auch keine frommen Pilger, sondern „eine Prozession der Enttäuschten", wie Schwering treffend schreibt:
Zerhöhlt, verzehrt die Gesichter. Asketische Melancholiker von franziskanischer Strenge. Das Antlitz von äußerster Not überschattet, auch von glückloser Altersmüdigkeit. Kantige Wesen stehen vor uns, rätselhaft unbegreiflich. Fast abwehrend, verschlossen. Die Figuren der Hirten haben gar nichts Weihnachtliches, Friedvolles, Beschauliches an sich. Inhetvin porträtiert verhärmte Gestalten, die sich täglich schinden und plagen, die „Mühseligen und Beladenen".
Eine Ausnahme bilden die beiden knienden Hirten. Der eine hält einen Dudelsack (vielleicht möchte er dem Kind etwas vorspielen?) und betrachtet das Jesuskind ein wenig schüchtern aus der Entfernung; der andere - offensichtlich der ältere - kniet ehrfürchtig mit geneigtem Haupt und geöffneten Händen unmittelbar vor dem Kind nieder. Ein wenig Hilflosigkeit schwingt da mit, so als schämte er sich seiner Armut. Auch er würde dem Heiland gerne etwas schenken, wie es der älteste der Könige vermag, der ihm gegenüber niederkniet und ein Schatzkästchen mit Gold hält; aber der Hirte kommt mit leeren Händen.
Die Hauptgruppe bilden Maria, Josef und das Kind. Ihre Beziehung zueinander hat Inhetvin durch die Körperhaltung der Figuren verdeutlicht: die Figuren der Maria und des Josef sind mit dem ganzen Körper in eine Kreislinie um die Mitte, Christus, gebogen.
Dennoch werden sie ganz unterschiedlich charakterisiert. Während Maria, zu der sich zwei Engel gesellt haben, ganz in die Betrachtung des Jesuskindes versunken ist, wirkt Josef ernst und sogar ein wenig erschrocken. Schützend und zugleich nachdenklich hält er seine linke Hand vor den Mund (weil er sprachlos ist?), mit der Rechten macht er eine Geste, die man sowohl als Segnung als auch als Abwehr deuten kann. Zumindest jedoch wird eine gewisse Distanz erkennbar, die wahrscheinlich aufseine Rolle als Ziehvater Jesu zurückzuführen ist.
Einem ganz anderen Menschenschlag als die Hirten gehören die Könige an. Sie sind vom Geist der Weihnacht durchdrungen und strahlen Frieden, Hoffnung und Zuversicht aus. Besonders ausdrucksvoll ist das Gesicht des jüngsten der drei; der „Mohr" (ein Schwarzafrikaner mit Kraushaar) ist ganz erfüllt von Staunen und Bewunderung: mit großen Augen und offenem Mund betrachtet er das Kind in der Krippe.
Mühsam schleppt sich ein schwerbeladener Esel in Begleitung seines Besitzers zum Stall, während von der anderen Seite ein Hirte mit einem Reh naht, das seinen Begleiter fragend und zögerlich anschaut. Selbst die Natur scheint sich hier nicht zu großer Freude durchringen zu können.
Für die „kleinen Leute" scheint das Ereignis allenfalls eine Abwechslung in ihrem gewohnten Alltagstrott zu sein, während die Weisen seine Bedeutung verstanden haben. Die Hirten sind so sehr mit sich selbst und dem Fristen ihres armseligen Daseins beschäftigt, daß sie unfähig scheinen, ihr Herz ganz zu öffnen. Es ist ihr Kleinmut, der es ihnen so schwer macht, die ganze Dimension des Wunders zu begreifen, daß ihnen hier offenbart wird. Es sind Menschen, die sich vor jeder Veränderung ihrer Alltagsroutine fürchten; deshalb wirken sie so verstört. Für das Kind in der Krippe aber sind sie ebenso willkommen wie die Könige. Es macht keinen Unterschied.
Auffällig ist, daß außer den Engeln keine der Gestalten ein Lächeln über die Lippen bringt. Weihnachten - ein Fest der Freude? Bei Inhetvin wohl eher eine ernste Angelegenheit.
St. Michael
- Moltkestr. 117
- 50672 Köln
- Tel.: 51 77 51
- Friesenplatz: Stadtbahn 3, 4, 5, 15.
Text: ©
Yvonne und Thomas Plum , aus: Kölner Krippengänge (Köln: J.P. Bachem 1996)
Fotos: © C.P. Rakoczy aus Kölner Kirchenkrippen
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